Wenn Liebe nicht mehr ausreicht – Angehörige im Umgang mit Adipositas Betroffenen

Tag 157. 96 Tage post OP.

Im Blogbeitrag Adipositas – Leben mit einer Krankheit habe ich mich damit befasst, wie sich diese Krankheit bei mir äußert, wie ich gelernt habe damit umzugehen und wie der Stand der Aufklärung in unserer Gesellschaft ist. Aber was ist eigentlich mit den Angehörigen und Freunden, die zusehen müssen, wie ein geliebter Mensch leidet und schlimmstenfalls direkt auf einen Abgrund zu steuert?

Ich möchte kurz anmerken:

Ob jemand unter seinem Übergewicht leidet sieht man nicht am BMI oder auf der Waage. Ich kenne viele, die auch übergewichtig ein erfülltes zufriedenes Leben führen. Jeder Mensch hat seine eigene „Schmerzgrenze“ – bei der Körper und Kopf anfangen zu streiken. Ich erzähle in meinen Blogeinträgen immer von MEINER persönlichen Schmerzgrenze!

Zu meinen schwersten Zeiten

Vor kurzem habe ich mit Sarah telefoniert. Sarah und Ich – wir kennen uns seit wir 9 Jahre alt sind, haben schon unzählige Nächte mit der Taschenlampe unter der Bettdecke verbracht und uns gegenseitig Geheimnisse voneinander erzählt. Gestern saßen wir mal wieder metaphorisch gesehen unter besagter Bettdecke. Wir sprachen darüber wie es ihr im letzten Jahr ging, als sie mich im Sommer besucht hatte. Wir sehen uns nicht sehr häufig. Höchstens 1-2 Mal im Jahr, und deshalb fielen ihr meine körperlichen Veränderungen besonders auf. Bei Ihrem Besuch zu meinem Geburtstag im August hatte ich mein Höchstgewicht von 185kg erreicht. Ich hatte bereits mit ihr über meinen Informationstermin in einem Adipositas Zentrum im folgenden Oktober gesprochen und sie telefonisch schon darauf vorbereitet, dass es mir nicht gut ging. Was sie allerdings wirklich erwartet, als ich sie am Zug abholte, darauf war sie wohl nicht gefasst. Als sie mir ihren Eindruck der Situation letztes Jahr schilderte, ganz offen und ohne etwas zu beschönigen, wurde mir erst richtig klar, wie eingeschränkt ich wirklich schon zu diesem Zeitpunkt gewesen war.

Ich wollte überall hinfahren, weil ich nicht lange laufen konnte. Habe ständig geschwitzt, da es auch zu diesem Zeitpunkt ziemlich warm war, und hatte ständig Angst zu viel Raum einzunehmen. Dabei macht man das automatisch, wenn man so stark übergewichtig ist. Halten mich die Stühle aus? Schaffe ich die 200 m bis zur Eisdiele? Welches Eis bestelle ich, ohne dass mich andere schief anschauen? Der Tag ist geprägt von Gedanken, wie ich diesen möglichst unauffällig hinter mich bringe.

Sie erzählte mir, dass sie die erste Nacht nicht schlafen konnte, weil sie sich solche Sorgen um mich gemacht hat. Dass sie aber nicht wußte wie sie es ansprechen sollte. Schließlich wollte sie mich nicht verletzen. Sie sei mit der Situation überfordert gewesen und das Wochenende bei mir wäre unheimlich anstrengend gewesen, weil wir alles was wir taten automatisch nach meinen Möglichkeiten, bzw. körperlichen Einschränkungen ausrichten mussten. Ihre Bedürfnisse hätte sie komplett hinten angestellt. Sie hatte sich sogar dabei ertappt, wie sie auch ihr Essen danach auswählte, ob es mich „in Versuchung“ bringen könnte.

Wenn Adipositas für das Umfeld zur Belastung wird

Mich hat das zum Nachdenken gebracht. Mir war nie klar, wie sehr mein Übergewicht und auch meine Essstörung meine Freunde und Familie belasteten. Obwohl genau das einer meiner größten Ängste war. Anderen zur Last zu fallen. Ich war eigentlich viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als dass ich auch noch Rücksicht auf andere hätte nehmen können. Außerdem dachte ich immer, dass ich das nach außen gut überspielen würde. Dass ich selbstbewußt und stark wirke. Dem war wohl nicht so.

Übergewicht

Die Frage „Warum“

Als Kind/Jugendliche kam die Essstörung schleichend. Meine Mutter war oft überfordert mit mir und der Situation. Was sollte sie auch denken, wenn sie  unter dem Bett ihrer 12 jährigen Tochter haufenweise Essensreste findet? Als sie mich damit konfrontierte, behauptete ich steif und fest, dass ich das nicht gewesen sei.  Ich habe mich einfach so geschämt, dass ich alles abgestritten habe. Auch auf ihre Frage, warum ich das täte, konnte ich ihr keine Antwort geben. Es gibt tatsächlich keine schlimmere Frage, die man einem essgestörten Menschen (in meinem Fall einem Kind) stellen kann. Die Frage nach dem Warum ist der Dreh- und Angelpunkt. Ich wußte selbst nicht, warum ich esse. Und das heimlich und immer hochkalorisch. In den folgenden Jahren lief es mal mehr und mal weniger gut mit dem Essen. Das Gewicht allerdings ging stetig nach oben. Selbst der Hausarzt konnte meiner Mutter nicht helfen. Beratungsstellen gab es so nicht und der Satz, „Ihre Tochter sollte einfach mal weniger essen!“, war die Standardantwort. Die Reaktionen in meinem Umfeld waren über die Jahre hinweg auch sehr unterschiedlich. Freunde wunderten sich, dass ich immer mehr zunahm, obwohl ich in ihrer Gegenwart ganz normal aß. Gesprochen wurde natürlich nicht darüber. Niemand wollte ein so brisantes Thema anschneiden und dafür verantwortlich sein, dass es mir schlecht ging. Ich war nun mal die dicke Alex. Manche „Freunde“,  die gar nicht mir meinem Übergewicht und den Auswirkungen klar kamen, haben sich einfach von mir abgewendet. Vielleicht auch aus Selbstschutz. Meine Mutter schwankte zwischen Resignation, Besorgnis und Wut. Der schlimmste Satz, den ich je hören mußte war (und dieser Satz kam vor allem aus meiner Familie): „Es tut mir weh, wenn ich dich so sehe!“ Sicher ist so eine Aussage nur ein Ausdruck von Hilflosigkeit und großer Besorgnis, trotzdem hab ich sie gehaßt. Das eigene Gefühl des Frusts und der Wut gegenüber sich selbst, dass man es nicht hinbekommt abzunehmen, ist schon schlimm genug. Dann aber auch noch gesagt zu bekommen, dass man mit seinem Verhalten oder mit seinem Aussehen jemanden „verletzt“, ist schier unerträglich. Ich hab lange überlegt, was meine Familie, meine Freunde hätten tun oder sagen können, um mich aus diesem Teufelskreis rauszuholen. Um überhaupt an mich heran zu kommen. Lange Zeit hab ich die Augen verschlossen vor der Wahrheit und mir selbst eingeredet, dass es doch alles gar nicht so schlimm sei. Zu diesem Zeitpunkt hätte wahrscheinlich gar nichts geholfen.

Was kann helfen?

Was ich mir vielleicht gewünscht hätte, wäre Aufklärung und Verständnis für die, die mir nahe stehen. Jemand der Ihnen verständlich macht, was eigentlich in meinem Kopf vorgeht, denn ich selber war dazu nicht in der Lage.  Ich wußte ja teilweise selber nicht, was da mit mir passiert. Was bedeutet es eine Essstörung zu haben und übergewichtig zu sein? Ich weiß, dass es nicht einfach gewesen sein muss über die Jahre hinweg mit mir befreundet zu sein. Das Gefühl der Hilflosigkeit auszuhalten, während es mir immer schlechter ging. Sicher gab es auch mal Zeiten, in denen alles Ok war. Als ich zum Beispiel schon mal 50 kg abgenommen hatte. Da ist es fast ins Gegenteil gerutscht. 6 mal die Woche Sport. Erst Fitnessstudio, dann nochmal 50 Bahnen schwimmen. Das richtige Maß zu finden war für mich schon immer sehr schwierig.

Aber meistens war es so, dass ich Verabredungen teilweise sehr kurzfristig abgesagt habe, weil ich mich nicht traute raus zu gehen, mich unwohl fühlte oder mir schlicht und ergreifend die Kraft fehlte. Das stieß und stößt nicht immer auf Verständnis.

Es gibt immer einen Ausweg

Standing out from the crowd

Ich hab es schon mal gesagt: Adipositas macht einsam. Nicht nur in Bezug auf die Menschen um einen herum, sondern vielmehr noch auf Grund der Gedankenwelt, die wir Betroffenen aus Scham und Angst für uns behalten.  Das Einzige was man tun kann, ist dem Betroffenen einen Ausweg zu zeigen und ihm immer wieder zu signalisieren:

„Du mußt diesen Weg nicht alleine gehen – wir stehen dir bei auch wenn es nicht immer leicht sein wird. Den ersten Schritt allerdings, musst du selbst gehen! Nur du kannst dein Leben wieder in die Hand nehmen und Verantwortung dafür übernehmen!“

Kisses eure Alex

Nachtrag:

An Betroffene die sich hier wiederfinden:
Du bist nicht allein. Hol dir Hilfe! Hier eine Kontaktadresse der Adipositas Hilfe Nord. Sie stehen Euch mit Rat und Tat zur Seite und können Euch ggf. auch an die richtigen Stellen weitervermitteln.

An Angehörige und Freunde von Betroffenen:
Auch wenn ihr Euch als Angehöriger hilflos fühlt und nicht weiter wisst. Die Kollegen von der Adipositas-Hilfe haben auch für Euch immer ein offenes Ohr. Allein darüber zu sprechen hilft schon.

Adipositas Hilfe Nord

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