Adipositas – Leben mit einer Krankheit

Alex
Ich wende mich heute mit einer Herzensangelegenheit an Euch

Vor gut zwei Wochen durfte ich Teil einer wunderbaren Kampagne gegen die Stigmatisierung von Adipositas werden (Dazu ein anders Mal mehr). Die Kampagne unterstützt eine Petition für den deutschen Bundestag, in der mehr Aufklärung über die Krankheit Adipositas und vor allem eine Verbesserung der Hilfeleistungen, sowie eine bundesweit einheitliche Finanzierung dieser, gefordert wird.

Die Initiatoren und Unterstützer der Petition sind:

AdipositasHilfe Nord e.V.
Adipositas Verband Deutschland e.V.
Adipositaschirurgie Selbsthilfe Deutschland e.V.
Deutsche Adipositas Gesellschaft e.V.

Weitere Infos dazu und die Möglichkeit sich in der Petition einzutragen findet ihr hier:

https://www.adipositas-petition.de

Warum diese ganze Geschichte für mich inzwischen zu einer Herzensangelegenheit geworden ist, möchte ich euch im Folgenden erzählen. Es ist ein recht langer und ausführlicher Blogbeitrag geworden, in dem ich meine Gedanken, aber auch ein paar Informationen zu diesem Thema mit Euch teilen möchte. Ich weiß, dass ich damit euer Durchhaltevermögen wahrscheinlich ziemlich ausreize. Bitte lest Euch aber trotzdem den Artikel auf jeden Fall bis zum Ende durch. Vielleicht kann ich damit ja auch schon ein wenig zur Aufklärung über dieses Thema beitragen.

Was ist Adipositas?

Ab wann hat man eigentlich „offiziell“ diese Krankheit. Denn Adipositas ist laut WHO eben jenes – eine Krankheit! In der Regel wird ab einem BMI von 30-34,9 von Übergewicht, bzw. Adipositas Stufe I, gesprochen. Stufe I bedeutet nicht gleich, dass derjenige körperlich eingeschränkt ist. Viele in diesem Bereich fühlen sich wohl und sind  aktiv. Etwas risikohafter wird es bei einem BMI von 35-39,9. Da beginnt in der Regel, auch mit zunehmendem Alter, das krankhafte Übergewicht mit einer mittelschweren Adipositas Stufe II.

Ich hatte einen BMI von 65 und somit Adipositas Stufe III. So hohes Übergewicht hat meist Begleiterkrankung im Schlepptau, wie z.B. zu hohem Blutdruck, Schlafapnoe, erhöhtes Schlaganfall- und Herzinfarktrisiko, Arthrose, Diabetes … die Liste ist lang!

Adipositas hat meist nicht nur eine Ursache. In der Regel gibt es eine Reihe von Faktoren, die diese Krankheit auslösen. Bei mir liegt eine Essstörung vor und damit einhergehende depressive Phasen. Zudem bin ich genetisch durch beide Seiten meiner Familie vorbelastet. Durch meine jahrelange Essstörung ist auch mein Sättigungsgefühl abhanden gekommen und mein Hormonhaushalt ist durch das viele Ab- und Zunehmen über die letzten 20 Jahre ebenfalls aus dem Gleichgewicht geraten.

Wie funktioniert unser Körper?

Am Ende des Tages geht es für unseren Körper immer um einen ausgewogenen Kalorienhaushalt. Er ist es nicht gewohnt „abzunehmen“. In der um die 200 000 Jahre alten Entwicklungsgeschichte des modernen Menschen ist sowas wie „Gewichtsverlust“ einfach nicht vorgesehen! Die moderne Gesellschaft mit immer weniger körperlicher Arbeit und Essen im Überfluss stellt uns vor neue Herausforderungen. 23,6% aller Männer und Frauen in Deutschland leiden unter Adipositas, wobei ich zu den 2% (umgerechnet ca. 1,6 Millionen) mit Adipositas Stufe III gehöre. Wenn also unser Körper „Abnehmen“ gar nicht kennt, kein Wunder, dass es uns so schwer fällt!

Reduzieren wir also unsere Kalorienzufuhr drastisch, denkt unser Körper nicht: Juhu, die Frau arbeitet jetzt 4 Wochen an ihrer Bikini-Figur und ißt dann wieder normal! Nein, er schaltet relativ schnell in den „Sparmodus“ um einer bevorstehenden „Hungersnot“ vorzubeugen. Als erstes scheidet er das gespeicherte Wasser aus und fährt die „Systeme runter“. Danach geht er an den Abbau der Muskulatur. Erst im 3. Schritt greift er die Fettreserven an. Steigern wir irgendwann wieder die Kalorienzufuhr, freut sich unser Körper (der inzwischen auf einen niedrigeren Grundumsatz eingestellt ist) und schickt die zusätzlichen Kalorien direkt in die Fettpolster um für die nächste „Hungersnot“ vorzubeugen. Willkommen im JoJo-Effekt. Das richtige Maß zu finden und den Grundumsatz langsam zu senken, dass ist eigentlich die einzige Möglichkeit der Abnehmfalle zu entkommen. Bei Menschen wie mir, mit einem so hohen und teilweise noch höheren BMI, ist oft eine Operation die letzte Möglichkeit.

Aber wie geht unsere Gesellschaft mit der steigenden Zahl an adipösen Menschen um?

Hilfe oder „Schadensbegrenzung“?

Ich habe viele Jahre Therapie hinter mir, um meine Glaubenssätze über mein Gewicht endlich los zu werden. Sehr lange habe ich mich dafür gehaßt, so dick zu sein. Denn „Dick sein“ stand für mich und für viele in unserer Gesellschaft für Disziplinlosigkeit, Schwäche und Faulheit! Und in vielen Köpfen ist das immer noch so verankert! Viele adipöse Menschen stigmatisieren sich sogar selbst tagtäglich und quälen sich mit diesen Glaubenssätzen. Wer kennt nicht den Spruch: „Jetzt reiß dich doch mal zusammen. Du musst einfach weniger essen!“

Erst letztens wurde ich wiedermal mit einem vorwurfsvollen Unterton gefragt, wie ich es nur so weit hätte kommen lassen können. Sinngemäß: Spätestens wenn man sich nicht mehr richtig den Arsch abwischen kann, müsse man doch die Notbremse ziehen.

Früher wäre ich nach so einem Spruch auf dem direkten Weg zum nächsten Fast Food Drive-In gewesen. Reicht es nicht, dass wir uns selber schon so fertig machen? Muß die Gesellschaft auch noch mal draufhauen? Wir brauchen solche überflüßigen Kommentare nicht! Mich macht das wütend. Wütend, weil es so viele Menschen da draußen gibt, die das immer noch glauben und sich solche Sprüche zu Herzen nehmen

Was wir brauchen sind keine Vorwürfe! Wir brauchen Aufklärung über diese Krankheit und Hilfe, für diejenigen, die darunter leiden!

Sich Hilfe zu holen ist nicht einfach. Ich denke ihr kennt das. Oft wartet man, bis gar nichts mehr geht, bevor man zum Arzt geht. Für mich war das auch eine riesige Überwindung. Zum Glück habe ich eine tolle Hausärztin, die mich sofort aufgefangen hat, als ich weinend in ihrer Praxis zusammengebrochen bin. Sie hat mir geholfen Termine zu vereinbaren und später auch alle nötigen Unterlagen für die OP zusammenzutragen. Außerdem habe ich ein vorbildliches Adipositaszentrum an meiner Seite, das mich unheimlich unterstützt.

Dieses Glück haben nicht alle! Allein dieser Schritt in die Öffentlichkeit zu gehen und zu sagen, ich brauche Hilfe, kostet unglaublich viel Überwindung. Viele verbinden „Hilfe suchen“ mit dem Gefühl „versagt zu haben“. Wenn sie dann nicht an eine Person geraten, die sie ernst nimmt, nicht verurteilt und die Unterstützung in die richtigen Bahnen lenkt, verläuft ihr Hilferuf im Sand. Als ich vor Jahren wieder eine Therapie machen wollte, weil es mir mit der Essstörung sehr schlecht ging, wendete ich mich an meine Krankenkasse. Das einzige was diese tun konnte war, mir eine Liste mit den kassenärztlich anerkannten Therapeuten zuzuschicken. Ich hab 2 Wochen gebraucht, bis ich mich traute die erste Nummer anzurufen. Ein ziemlich unfreundlicher Herr rief mich zurück, der mir am Telefon erklärte, dass er zwar Platz hätte, er aber keine Essstörung wie „Binge-Eating“ behandeln würde. Danach hab ich erstmal vier Wochen niemand mehr angerufen, weil ich nicht die Kraft hatte.

Es muss sich etwas ändern

Jetzt geht es mir besser. Ich bin überglücklich mit meiner OP und ich erobere mir Stück für Stück ein aktiveres, leichteres und gesünderes Leben zurück. Aber das geht nicht allen so! Durch meinen Blog und meine Aktivität in sozialen Netzwerken wie Facebook, bekomme ich viele Missstände mit. Ärzte, die über Adipositas immer noch nicht aufgeklärt sind und ihre Patienten mit: dann gehen sie mal ein bißchen mehr Sport machen! nach Hause schicken. Krankenkassen, die noch nicht mal bei der Vermittlung zu geeigneten Therapeuten helfen können und Ernährungsberatung oft nur anteilig bezuschussen. Der Medizinische Dienst, der von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich über die Notwendigkeiten einer Operation entscheidet. Wohnst du im Süden der Republik hast du die Arschkarte. Mal hier eine Aktion, mal da eine Präventionsmaßnahmen, aber eine all umfassende Regelung und vor allem ein Lobby für diese Patientengruppe, also für UNS, gibt es einfach nicht.

Was ich erreichen möchte

Ich möchte mit anderen dafür kämpfen, uns Gehör zu verschaffen. Es muss mehr Aufklärung stattfinden. Nicht nur bei Ärzten, sondern auch bei den Betroffenen selbst, die immer noch glauben, dass mit ihnen irgendwas „falsch“ ist. NIEMAND soll sich so fühlen müssen, wie ich lange Jahre. Denn Adipositas und das Leiden darunter macht oft einsam. 

Seid ein Teil dieser Petition und helft mit, dieses Thema endlich auch auf politischer Ebene zu platzieren und zu diskutieren. Es werden 50 000 Unterschriften benötigt, ich freue mich, wenn ihr eine dazu beisteuert!!

Ich danke Euch für euer Durchhaltevermögen. Bitte teilt diese Petition und auch gerne diesen Beitrag. Ihr seid die Besten!

Kisses Eure Alex

5 Comments on “Adipositas – Leben mit einer Krankheit”

  1. Ich bin Diabetiker Typ 1 und habe eine Insulinresidenz. Mein Insulin was ich spritze macht meinen dicken Bauch aus. Ich spritze mich seit 1991 in den Bauch mit Kurzzeitinsulin und war öfters der Meinung das mein Blutzucker niedriger sein müste nach dem Spritzen und was ich gegessen habe. Der BMI Wert sagt aus das man zu dick für seine Grösse ist, sollte man aber nicht gesundheitliche Perspekte dabei sehen.
    Ich habe kein Doppelkinn mache Sport aber im Alter ist nicht mehr alles so wenn man 20 Jahre jünger ist

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    • Hallo Sigrid,
      ja, der BMI ist nicht immer aussagekräftig. Der Anteil des Bauchfettes ist zum Beispiel auch ein Faktor, der Begleiterkrankungen begünstigt und viele kommen mit ihrem Übergewicht auch gut klar.
      Für Adipositas gibt es die unterschiedlichsten Gründe, und genauso viele Therapiemöglichkeiten um Menschen, die darunter leiden zu unterstützen. Vielen Dank für dein Kommentar und ich wünsch dir alles Gute! 🙂

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  2. Pingback: Wenn Liebe nicht mehr ausreicht – Angehörige im Umgang mit Adipositas Betroffenen | Bye-Bye Doppelkinn

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