Der Zauber der „ersten Male“

Tag 86. 24 Tage post OP
„Erste Male“ sind was für die Jugend… das erste Mal ohne Eltern auf einer Party, das erste „Pfläumchen“, das erste Mal verlieben und nach 2 Wochen wieder entlieben, der erste Film mit Altersbeschränkung FSK16 („Basic Instinkt“ – und ich kam mir soooo cool vor!) oder auch das erste Mal durch die Fahrprüfung fallen.
Früher war alles anders
Könnt ihr euch noch daran erinnern wie ihr euch gefühlt habt? Die Aufregung, die Spannung – wie kurz vor einer Achterbahnfahrt! Mein Herz klopfte bis zum Hals und ich versuchte die innerliche Anspannung durch Coolness zu überspielen. Wenn es dann vorbei war, war ich völlig euphorisch: was kostet die Welt? Und hatte das Gefühl nichts kann mich stoppen. Immer höher, schneller, weiter. Gut, manchmal ging es auch in die Hose und ich verkroch mich in meinem Zimmer um mir die Wunden zu lecken. Irgendwann aber ging es auch wieder bergauf und das nächste „erste Mal“ forderte meinen Mut.
Dann wurde ich älter, erfahrener und „erste Male“ gab es mit den Jahren immer weniger, oder sie verloren einfach an Bedeutung. Die Abenteuerlust beschränkt sich auf die spontane Auswahl eines Kinofilms – ohne vorher die Vorschau gesehen zu haben.
Wegrennen ist keine Option
Ja, genauso läuft es. Unser Leben spielt sich ein und geht seinen Gang. Und dann auf einmal: Eine große Veränderung stellt dich plötzlich vor ungeahnte Herausforderungen und beraubt dich eines Teils deiner über Jahre mühsam erarbeiteten „gefühlten Lebenskompetenz“. Bei mir war es diese OP, die alles auf den Kopf gestellt hat. Was ist es bei dir?
Und dann stehst du vor einem Haufen, einem riesigen Haufen, neuer „erster Male“! Schon ein bißchen Angst einflößend, aber was bleibt dir da übrig? Wegrennen (wenn du kannst) oder sich dem Abenteuer stellen!? Ich hab mich für letzteres entschieden.
In den Tagen nach der OP war ich tatsächlich ein wenig überfordert. Mit Allem – dem Essen, dem Trinken und dem neuen Gefühl im Körper. Ich war aufgewühlt, glücklich, dankbar… unsicher, ängstlich. Ich fühlte mich, wie in meiner heißesten Pupertätsphase.
Als ich endlich am 4. Tag nach Hause durfte, war ich einfach nur froh und mein „Erste-Male“ – Revival startete.
Nachdem ich den Babybrei in der Klinik einfach nur scheußlich fand, wollte ich, dass meine erste Mahlzeit zuhause aus meinem Lieblingsessen bestand. Ich glaube, ich habe mich noch nie in meinem Leben so nach Spinat mit Kartoffelbrei gesehnt. Der erste Teelöffel (nochmal extra 2 Minuten auf höchster Stufe klein püriert) war einfach himmlisch! .. und als der Spinat so langsam die Speiseröhre hinunter kroch, unten im Magen ankam und anstandslos akzeptiert wurde, … ab da war meine Welt in Ordnung! Glück gehabt, dachte ich, mit einer Schweinshaxen wäre diese erste Begegnung sicher nicht so glimpflich abgelaufen.
Abenteuer Lebensmittel
Einkaufen ist auf einmal ein völlig neues Erlebnis. Viele Lebensmittel sind in der ersten Wochen Tabu (schwer verdauliches wie Vollkornbrot oder Fleisch) und die Mengen sind wirklich recht überschaubar. Wenn es manchmal schon schwierig ist für einen Single-Haushalt einzukaufen, stellt Euch mal vor, wie es ist wenn man maximal 50-100g pro Portion essen kann. Letztens wollte ich mal Hähnchenbrust ausprobieren und griff gewohnheitsmäßig in der Kühlabteilung zur abgepackten 400g Portion. Zuhause, einen Tag später, also ich das Essen zubereiten wollte, fiel mir erst auf, daß ich viel zu viel gekauft hatte. Ich hab heute noch die Reste im Kühlschrank (hmm… vielleicht sollte ich diese mal zeitnah entsorgen). Der Inhalt des Einkaufswagens gleicht in der Regel der Auswahl einer Molkereiabteilung. Alles mit hohem Proteingehalt landet im Wagen. Zwischendrin tummelt sich Gemüse (eine Möhre, die für 3 Tage reich) , mehlig kochende Kartoffeln und stilles Wasser. Das war´s.
Nun bin ich unermüdlich dabei auszutesten, was geht. In der Regel erkenne ich schon auf dem Weg in den Magen, ob dieser das Essen gut findet oder eher nicht. Zwischendrin mache ich immer wieder Pausen, damit ich das Sättigungsgefühl auch nicht verpasse. Mit unter geht das ziemlich schnell. Ich freue mich über jedes neue Lebensmittel, dass von meinem neuen Magen ohne Murren und Übelkeit angenommen wird. Da es sich nicht lohnt in so kleinen Mengen zu kochen, bin ich dazu über gegangen, die Reste
nach dem Kochen in Eiswürfelbehältern oder in einer Muffinform portionsweise einzufrieren. Am nächsten Tag fülle ich die Portionen in Gefrierbeutel um und kann an einem anderen Tag, wenn es schnell gehen muss, einfach eine Portion im Topf oder der Mikrowelle aufwärmen. Auf diesem Wege füllt sich mein Gefrierschrank gerade mit eingefrorenem Kohlrabi-, Blumenkohl-, Möhren-, Spinatpüree oder auch mit Spargel-, Kürbis- und Blumenkohlsuppe.
Inzwischen bin ich auf der nächsten Stufe des Kostaufbaus angekommen. Ich hab herausgefunden, dass Fisch und Tofu ebenfalls kein Problem für meinen Magen darstellen. Pürieren muss ich das Essen auch nicht mehr so klein, sodaß man fast schon erkennen kann was auf dem Teller liegt. Meine Lust darauf neue Lebensmittel zu entdecken, die ich vorher vielleicht gar nicht so mochte, wächst von Woche zu Woche und ich freu mich auf jedes „erste Mal“ wie ein Schneekönig. Selbst das Kochen macht mir inzwischen Spaß! Wer mich kennt, weiß, dass Kochen eigentlich nie so mein Ding war. Genauso, wie ich regelmäßig den Basilikum auf der Fensterbank eingehen lasse, verließ mich auch beim Kochen regelmäßig die Motivation.
Willy Wonka auf Kurzbesuch
Bevor ich jetzt hier als mega Streber rüberkomme, auch ICH verspüre zwischendrin immer mal wieder das Verlangen nach ´nem fetten Döner oder meinen heiß geliebten Donuts (Willi Wonka läßt grüßen!). Was mich im Endeffekt davon abhält, einfach mal in so ein fluffiges, süßes, schokoladiges Teilchen reinzubeißen ist, dass mein Körper das mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht gut finden und es post wendend wieder nach draußen befördern würde. Zudem hält sich das Verlangen tatsächlich in Grenzen. Klingt blöd, aber ich glaube, der Zuckerentzug zeigt Wirkung.
Einmal konnte ich nicht widerstehen und nahm mir bei DM ein Gläschen Babynahrung mit. Für Kinder ab 12 Monaten, bei denen die Kost nicht mehr fein püriert sondern eher fein zerkocht wird. War bequem, konnte man sogar kalt essen. Aber irgendwie kam mir das nicht richtig vor. Seither laß ich die Finger davon und fühl mich besser.
Gib mir mehr davon…
Zurück zu meinen ersten Malen. Nicht nur was die Nahrung betrifft bin ich damit auf dem Vormarsch, auch sonst verändert sich vieles. Das Gefühl wenn Schuhe, die ich mir vor einem Jahr gekauft habe, endlich passen ist einfach mit nichts zu bezahlen. Oder wenn Oskar das erste Mal neben mir im Schritttempo laufen muß um mit mir mitzuhalten. Schuhe binden funktioniert wieder, ohne dass ich die Luft anhalten muß und ich kann endlich meine Fußnägel in der Farbe meiner Fingernägel lackieren! Yeahh!!!
Nachdem ich in einem vorigen Beitrag über meine letzten Male geschrieben habe ( Willy Wonka und der Mythos der „letzten Male“ ) bin ich nun dem Zauber der „ersten Male“ erlegen. Und das voll und ganz. Ich genieße es in vollen Zügen und freu mich auf jede neue Erfahrung, auf jeden neuen Tag, auf jedes neue „erste Mal“. Selbst wenn es vielleicht nicht so positiv ausgehen sollte wie erwartet. Aber was ist besser, Angst davor zu haben, was passieren könnte und es sein zu lassen, oder mutig zu sein und sie mit offenen Armen zu umarmen?
Also frage ich dich: Was kostet die Welt??
Kisses eure
Alex